Cortis Philosophieren und die Verantwortung der Wissenschaften

 

Walter Robert Corti im Kinderdorf im Gespräch mit Ernst Klug, 1950

Walter Robert Corti im Kinderdorf im Gespräch mit Ernst Klug, 1950, © Archiv A. Corti

    

Noch als Student hatte Corti in Wien und Berlin die Gleichschaltung der Universität durch die Nazis erlebt. Diese Erfahrung bestärkte ihn in der Überzeugung, dass anstelle politischer Ideologien nur wissenschaftliche Rationalität die Dinge richten konnte. Die Wissenschaften mussten endlich ihre Verantwortung für das Ganze der Welt wahrnehmen.
Das konnten sie nur im Gespräch – und der gegebene Gesprächsführer war für Corti die Philosophie. Aus der Philosophie, die anfangs alles war, hatten sich die Wissenschaften als methodisch geleitete je besondere Fragestellungen herausgelöst, also musste die Philosophie als Spezialistin fürs Allgemeine auch das dringlich gewordene Gespräch unter den Wissenschaften anleiten. Diese öffentliche Funktion der Philosophie zu fördern war Cortis eigentliches Anliegen. Die Schulphilosophie und ihre internen Diskursfelder hingegen waren nie wirklich seine Sache. Sein Anlass war die Not der Zeit und die Hoffnung auf die Möglichkeiten der vernünftigen Besinnung im Gespräch. («Es gibt nur noch die totale Verantwortung.» Bd. 4, S. 166) Aus dem Gespräch, das allein der Suche nach der Wahrheit verpflichtet wäre, würden Antworten hervorgehen, die in ihrer Synthese gewissermassen ein wissenschaftliches Weltbild ergeben würden – nie völlig abgeschlossen und immer wieder veränderbar.
Dieses Selbstverständnis, wesentlich ein praktischer Anreger zu sein, hatte sich bei Corti sehr früh herausgebildet. Über sein Gastsemester beim Philosophen Nicolai Hartmann in Berlin schreibt er: «Hartmann zeigte den Weg in die eigene Freiheit. Wer Täter sein will, der ergreife an Lehren, was ihm die Zeit bietet, was er aus der Tradition, aus dem eigenen Ingenium nehmen kann. Wer die Lehre erweitern will, kann nicht zugleich Täter sein. Ich glaubte zu erkennen, dass es für die rettende Tat am Ausbau der Lehre fehle. Meine ganze Natur drängte zum Praktischen. So begriff ich schliesslich meinen Auftrag, mehr als die Lehre selbst auszubauen den Ausbau der Lehre zu fördern.» (Bd. 4, S. 263) Immerhin versuchte er auch selbst ein Stück weit «vorzudenken»:

Der «werdende Gott» oder die Nachhaltigkeit
Da Corti von der Medizin und den Naturwissenschaften her kam (eine schwere Krankheit hatte seinen Studienabschluss in Medizin verhindert), suchte er vor allem einen Weg, die Natur und die sie untersuchenden Wissenschaften mit den Wissenschaften vom Menschen zu verbinden. 1954 war er Mitorganisator einer Tagung zu Ehren des 100. Todestages des Philosophen Schelling. In der Auseinandersetzung mit Schelling fand Corti zum Theorem des «werdenden Gottes» (Bd. 2, S. 91ff.): Die Welt ist noch nicht fertig, die Menschheit als höchste Stufe der Naturentwicklung hat ihr Ziel noch vor sich, und jeder kann am Sinn-Auftrag des Seins mitwirken. Diese trotz der religiös gefärbten Sprache immanent gemeinte Denkfigur sollte einen Rahmen abgeben, in dem alle Wissenschaften auf das gemeinsame Ziel eines humanen und trotz aller «Dialektik der Aufklärung» noch vertretbaren Fortschrittgedankens verpflichtet würden. Dieser Ansatz erwies sich für ihn als fruchtbar. In seiner Tätigkeit als Redaktor bei der Zeitschrift ‚Du‘ oder als Vortragsreferent zeigte er sich als anregender Vermittler vor allem naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, aber z.B. auch als Naturschützer vor der Zeit. Von heute aus liesse sich sagen, dass sein Begriff des «werdenden Gottes» eine ähnliche Funktion erfüllen sollte wie heute der Begriff der «Nachhaltigkeit». Gemein ist beiden Ansätzen der Appell an den Menschen, sich die eigene wie die äussere Natur in einem normativen Sinne zu bewahren.
Ein politischer Denker hingegen war Corti nie, die Welt der sozialen Strukturen, der staatlichen Organisationsfragen, der Rechts- und Verfassungsprobleme beschäftigten ihn wenig. Er war ein genuiner Kosmopolit, aber jederzeit dafür dankbar, dass ihm die Schweiz die Freiheit gewährte, das auch zu leben: «…es gibt kein wirklich ‚Fremdes‘, das Nationale ist der Zufall, über allen Menschen leuchten dieselben Sterne, das Gute findet sich überall.» (Bd. 4, S. 222) Aus diesem Geist wurde geboren, was als sein wichtigstes Vermächtnis gelten darf, die Idee zum Kinderdorf. – Bauen wir eine Welt, in welcher die Kinder leben können.