Das Kinderdorfprojekt

 

Ein Dorf für die leidenden Kinder – Der Aufruf im «Du» vom August 1944

 

Umschlag Du August 1944
In der Du-Ausgabe vom August 1944 warb W.R. Corti zum ersten Mal öffentlich für sein Projekt «Ein Dorf für die leidenden Kinder».



Kinderdorf

    

«Während im grossen Kriegsgeschehen die Völker nach neuen Gleichgewichten ringen und sich aus dem magischen Bann der sie würgenden Ideologien zu befreien suchen, wird an den Fronten die ‚Blüte der Nationen‘ geopfert, darben und bangen in den Hinterländern Mädchen und Frauen, am schlimmsten aber geht es den Kindern.» (Bd. 3, S. 16)

«… die Stunde der Schweiz steht erst noch bevor. Wenn einmal die Kanonen schweigen und die Menschen wieder zu den Flugzeugen aufschauen können, werden Millionen von Kindern weiter unsere Hilfe nötig haben. Wir können nicht allen helfen, aber wir können vielen helfen. (…) Was wir hier vorschlagen, möge als freundliche Anregung dienen. Zerstreut im ganzen Lande stehen Militärbaracken, die oft recht wohnlich eingerichtet sind. Ein grosser Teil von ihnen wird mit dem Kriegsende zu neuer Verwendung freiwerden. Würde man sie auf einem klimagesunden und übersonnten Areal aufstellen, ergäben sie wohl ein stattliches Dorf. (…) So könnten vielleicht mehr als 8000 Kinder Aufnahme finden, (…) Kinder, die der völligen Verwahrlosung und dem Tode entgegengehen. (…) Die Kinder würden dort mit vielen Erwachsenen zusammenwohnen, Menschen, die Kinder lieb haben, zugleich aber für die Gesamtprobleme dieser Welt offen sind. Ähnlich wie in den Landerziehungsheimen bilden etwa zwanzig Kinder mit ihrem Familienvater eine Grossfamilie.» (Bd. 3, S. 17)

Den Zusammenhang zu seinen grundsätzlichen Zielen entwickelt Corti in zwei Richtungen. Einerseits setzte er grosse Hoffnungen auf die Tiefenpsychologie von Freud und Jung. Sie sollten die Verführbarkeit der Massen zu Hass und Gewalt erklären und diese «geistigen Seuchen» heilen, wie er in einer sich an die Medizin anlehnenden Terminologie formuliert: «Hat das neunzehnte Jahrhundert die Elektrizität gebändigt und die bakteriellen Gefahren gebannt, so wird in diesem Jahrhundert ein neuer Arzttypus die geistigen Seuchen in der menschlichen Gemeinschaft erforschen und die Mittel finden, ihnen zu begegnen.» (Bd. 3, S. 15f.) Dieses Wissen liesse sich dann für die Erziehung im Kinderdorf fruchtbar machen. – Umgekehrt würden die Kinder in diesem riesigen Erfahrungsfeld die Erwachsenen lehren, denn sie «müssen ja in die Welt der Erwachsenen einwachsen, in die Welt jener Ideologien und jener ‚Kultur‘, in der Millionen von ihnen zugrunde gingen.» (Bd. 3, S. 18) Die Aufgabe war also schwierig. Aber ein entsprechend offener Geist sei «eher geneigt, unsere Kultur dem Kinde anzupassen als das Kind unserer Kultur.» (Bd. 3, S. 19) Angesichts dieser weit reichenden Aufgaben war es für Corti klar, dass im Dorf auch Forscher wohnen würden, welche die vielen Erfahrungen verarbeiten und die «Kinderforschung» vorantreiben würden. – Zuversicht und Anspruch zugleich enthält schliesslich jener kurze Satz, der als Motto für das ganze Projekt gelten darf: «Bauen wir eine Welt, in welcher die Kinder leben können.» (Bd. 3, S. 19f.)